Louise Labé (ca. 1524-1566)***Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Die zuerst 1555 in Lyon im Verlag von Jean de Tournes (bei Rilke Jan de Tournes) erschienen Dichtungen von Louise Labé gehören zu den bedeutendsten lyrischen Produktionen des 16. Jahrhunderts in Frankreich und wurden von den Zeitgenossen als der Beweis gefeiert, dass Frankreich literarisch das Niveau der italienischen Renaissancekultur erreicht hatte. Rilke hatte auf Louise Labé und die Jean de Tournes-Ausgabe ihrer Werke schon 1910 in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge Bezug genommen und Louise Labé in einer Reihe großer weiblicher Liebeslyrikerinnen genannt, die zugleich große unglücklich Liebende gewesen seien:

Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie sich überstünden
und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit. Niemand
verdächtigt sie mehr, und sie selbst sind nicht imstande, sich zu verraten. In
ihnen ist das Geheimnis heil geworden, sie schreien es im Ganzen aus wie
Nachtigallen, es hat keine Teile. Sie klagen um einen; aber die ganze Natur
stimmt in sie ein: Es ist die Klage um einen Ewigen. Sie stürzten sich dem
Verlorenen nach, aber schon mit den ersten Schritten überholen sie ihn, und
vor ihnen ist nur noch Gott. Ihre Legende ist die der Byblis, die den Kaunos
verfolgt bis nach Lykien hin. Ihres Herzens Andrang jagte sie durch die Länder
auf seiner Spur, und schließlich war sie am Ende der Kraft; aber so stark war
ihres Wesens Bewegtheit, daß sie, hinsinkend, jenseits vom Tod als Quelle
wiedererschien, eilend, als eilende Quelle.
Was ist anderes der Portugiesin geschehen: als daß sie innen zur Quelle ward?
Was dir, Heloïse, was euch, Liebenden, deren Klagen auf uns gekommen sind:

Gaspara Stampa; Gräfin von Die und Clara d'Anduze; Louize Labé, Marceline
Desbordes, Elisa Mercoeur? Aber du, arme flüchtige Aïsse, du zögertest schon
und gabst nach. Müde Julie Lespinasse. Trostlose Sage des glücklichen Parks:
Marie-Anne de Clermont.
Ich weiß noch genau, einmal, vorzeiten, zu Haus, fand ich ein Schmucketui; es
war zwei Hände groß, fächerförmig mit einem eingepreßten Blumenrand im
dunkelgrünen Saffian. Ich schlug es auf: es war leer. Das kann ich nun sagen
nach so langer Zeit. Aber damals, da ich es geöffnet hatte, sah ich nur, woraus
diese Leere bestand: aus Samt, aus einem kleinen Hügel lichten, nicht mehr
frischen Samtes; aus der Schmückrille, die, um eine Spur Wehmut heller, leer,
darin verlief. Einen Augenblick war das auszuhalten. Aber vor denen, die als
Geliebte zurückbleiben, ist es vielleicht immer so.
Blättert zurück in euren Tagebüchern. War da nicht immer um die Frühlinge
eine Zeit, da das ausbrechende Jahr euch wie ein Vorwurf betraf? Es war Lust
zum Frohsein in euch, und doch, wenn ihr hinaustratet in das geräumige Freie,
so entstand draußen eine Befremdung in der Luft, und ihr wurdet unsicher im
Weitergehen wie auf einem Schiffe: Der Garten fing an; ihr aber (das war es),
ihr schlepptet Winter herein und voriges Jahr; für euch war es bestenfalls eine
Fortsetzung. Während ihr wartetet, daß eure Seele teilnähme, empfandet ihr
plötzlich eurer Glieder Gewicht, und etwas wie die Möglichkeit, krank zu
werden, drang in euer offenes Vorgefühl. Ihr schobt es auf euer zu leichtes
Kleid, ihr spanntet den Schal um die Schultern, ihr lieft die Allee bis zum
Schluß: und dann standet ihr, herzklopfend, in dem weiten Rondell,
entschlossen, mit alledem einig zu sein. Aber ein Vogel klang und war allein
und verleugnete euch. Ach, hättet ihr müssen gestorben sein?
Vielleicht. Vielleicht ist das neu, daß wir das überstehen: das Jahr und die
Liebe. Blüten und Früchte sind reif, wenn sie fallen; die Tiere fühlen sich und
finden sich zueinander und sind es zufrieden. Wir aber, die wir uns Gott
vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden. Wir rücken unsere
Natur hinaus, wir brauchen noch Zeit. Was ist uns ein Jahr? Was sind alle?
Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: laß uns die Nacht
überstehen. Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe.
Daß Clemence de Bourges hat sterben müssen in ihrem Aufgang. Sie, die
ohnegleichen war; unter den Instrumenten, die sie wie keine zu spielen
verstand, das schönste, selber im mindesten Klang ihrer Stimme unvergeßlich
gespielt. Ihr Mädchentum war von so hoher Entschlossenheit, daß eine
flutende Liebende diesem aufkommenden Herzen das Buch Sonette zueignen
konnte, darin jeder Vers ungestillt war. Louize Labé fürchtete nicht, dieses
Kind zu erschrecken mit der Leidenslänge der Liebe. Sie zeigte ihr das
nächtliche Steigen der Sehnsucht; sie versprach ihr den Schmerz wie einen
größeren Weltraum; und sie ahnte, daß sie mit ihrem erfahrenen Weh hinter
dem dunkel erwarteten zurückblieb, von dem diese Jünglingin schön war.
Mädchen in meiner Heimat. Daß die schönste von euch im Sommer an einem
Nachmittag in der verdunkelten Bibliothek sich das kleine Buch fände, das Jan
des Tournes 1556 gedruckt hat. Daß sie den kühlenden, glatten Band
mitnähme hinaus in den summenden Obstgarten oder hinüber zum Phlox, in
dessen übersüßtem Duft ein Bodensatz schierer Süßigkeit steht. Daß sie es früh
fände. In den Tagen, da ihre Augen anfangen, auf sich zu halten, während der
jüngere Mund noch imstande ist, viel zu große Stücke von einem Apfel
abzubeißen und voll zu sein.

(aus: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge)

Clémence de Bourges ist die Adressatin des Widmungsbriefs, mit dem die Ausgabe von Louise Labés Gedichten beginnt. Dieser Brief lässt sich als ein frühes feministisches Manifest lesen, in dem Louise Labé für Frauen die gleichen Rechte auf Bildung einfordert, die den Männern selbstverständlich gewährt. All das ist zu berücksichtigen, wenn der Erzähler der Aufzeichnungen die Szene imaginiert, in der das schönste der „Mädchen in [s]einer Heimat” „im Sommer an einem Nachmittag in der verdunkelten Bibliothek sich das kleine Buch fände, das Jan des Tournes 1556 gedruckt hat”, also die zweite Auflage von Louise Labés Werken.
Wie beeindruckt Rilke von diesem Werk war, zeigt auch sein Entschluss, drei Jahre nach der Veröffentlichung der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge Louise Labés 24 Sonette komplett zu übersetzen.