Goethe (1749-1832)***Paul Valéry (1871-1945)

Paul Valéry, der einmal gesagt hat, es fehle ihm nur ein Deutscher, der seine Gedanken zuende denken würde, galt bereits zu Lebzeiten (1871-1945) als einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, und nicht nur Frankreichs. Als er 1945 starb, ließ De Gaulle ihm ein Staatsbegräbnis ausrichten. Man kann von Valéry sagen, was er 1928 selbst über Stéphane Mallarmé gesagt hat, als er sein Verhältnis zu dem bewunderten Vorbild zu definieren versucht hat:
Mallarmé créait donc en France la notion d'€™auteur difficile. Il introduisait dans l'€™art l'€™obligation de l'€™effort intellectuel. Par là, il relevait la condition de lecteur, et avec une admirable intelligence de la véritable gloire, il se choisissait parmi le monde ce petit nombre d'€™amateurs particuliers qui l'€™ayant une fois goûté ne pourraient plus souffrir de poèmes impurs, immédiats et sans défense. Tout leur semblait naïf et lâche après qu'€™ils l'€™avaient lu. (Lettre sur Mallarmé adressée à Jean Royère. Paris : Gallimard 1928, S. 22-23: „Mallarmé hat also in Frankreich die Idee des schwierigen Autors geschaffen. Er hat in die Kunst die Pflicht zur intellektuellen Anstrengung eingeführt. Dadurch hat er die Lage des Lesers erhoben, und mit einem bewundernswerten Verständnis für den wirklichen Ruhm hat er in der Gesellschaft jene kleine Zahl von besonderen Liebhabern ausgewählt, die, nachdem sie ihn einmal geschmeckt hatten, keine unreinen, spontanen, wehrlosen Gedichte mehr ertragen würden. Alles erschien ihnen feige und naiv, nachdem sie ihn gelesen hatten”.)
Valérys betonte Intellektualität - „la bêtise n'€™est pas mon fort” ("€šdie Dummheit ist nicht meine Stärke"€˜) aus seiner Soirée avec Monsieur Teste (zuerst 1896) ist einer seiner bekanntesten Aussprüche - prägte seine Dichtung, die er vor allem als Formsuche in der Nachfolge Mallarmés und nicht als Ausdruck von Emotionen oder Inspiration verstand. Mit dem André Gide gewidmeten Langedicht La Jeune Parque hatte er 1917 großen Erfolg, und das dazu komplementäre Langgedicht Cimetière marin von 1920 erschien zu einem Zeitpunkt, zu dem Valéry so etwas wie der französische Staatsdichter geworden war, der bei zahlreichen offiziellen Anlässen die Festreden halten durfte. 1925, im Alter von 54 Jahren, wurde er in die Académie française gewählt, wo er 1927 die Lobrede auf seinen Vorgänger Anatole France hielt, ohne dessen Namen auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Er hatte Anatole France nie verziehen, dass er sich 1876 geweigert hatte, Mallarmés Après-midi d'€™un faune in den Parnasse contemporain aufzunehmen, eine Anthologie zeitgenössischer Lyrik, die Anatole France als Lektor betreut hatte.
1932 hielt Valéry die Rede in der Sorbonne zur Gedenkfeier aus Anlass von Goethes 100. Todestag, in der er gestand, dass er zwar Goethe nicht im Original lesen könne, dass er ihn aber dennoch als eine mythische Figur wie Orpheus oder Proteus betrachte.
Ebenfalls zum Goethejahr 1932 erschien die zweisprachige Ausgabe des Faust, die der französische Germanist Henri Lichtenberger erarbeitet hatte, und die auch für Valéry maßgeblich werden sollte. Nach der epochemachenden Übersetzung des Goetheschen Faust von Gérard de Nerval (1828) wurde die französische Faustrezeption lange durch die Opernversion von Gounod (1859) bestimmt, bis hin zu Adaptionen wie der Marguerite de la nuit (1926) von Pierre MacOrlan, der Faust zum Zuhälter Margarethes macht, die sich in Pigalle für ihn prostituiert. Paul Valéry dachte schon seit 1924 über einen €šFaust III€˜ nach, in dem vor allem das Dämonisch-Teuflische die zentrale Rolle spielen sollte. Als er jedoch 1940 unter dem Eindruck der militärischen Niederlage Frankreichs gegen Nazideutschland damit begann, seinen eigenen Faust zu skizzieren, stand der Mensch Faust im Mittelpunkt, der nun seinerseits dem etwas beschränkten Teufel einen Pakt vorschlägt. Die lächerliche Teufelsgestalt verschwindet denn auch im Laufe des Fragment gebliebenen Faust-Dramas, an dem Valéry bis kurz vor seinem Tod gearbeitet hat. Zentrale Aspekte von Goethes Faust - den Pudel, das Ewig-Weibliche, die Mütter - hält Valéry für albern, vollkommen überholt und papierne Romantik, wie er während der Arbeit am Text zwischen 1940 und 1943 in seinen Cahiers notiert:
Tout le début du premier Faust très embarbouillé. L'€™affaire du barbet, etc. [...]. Faust est remarquablement passif. Nulle initiative. Il est, au fond, une sorte de spectateur [...] Le Second Faust - trad. Lichtenberger - ne me séduit pas énormément. L'€™arbitraire de toutes ces féeries. Et rien ne va très à fond. Mais fait visiblement semblant d'€™en revenir. Fabrication trop sensible et gaspillage de matériaux, dont beaucoup de carton. L'€™Éternel Féminin ! Les Mères !
Vor dem Hintergrund der Kriegserfahrungen hält Valéry auch die Teufelsgestalt für überflüssig und entwirft schließlich einen Faust, der von ganz alleine in den Wahnsinn und die Zerstörung treibt. Valérys Wertschätzung für Goethe, den er in der Festtagsrede von 1932 noch pathetisch als „Pater aestheticus in aeternum” gefeiert hatte, ist durch die intensive Beschäftigung mit dem Faust nicht gerade gestiegen, aber der Originalität seines von Goethe inspirierten, eigenen Faust hat das nicht geschadet.